Seelsorge

Theologisches Selbstverständnis

Seelsorge im Allgemeinen und Gefängnisseelsorge im Besonderen kann kurz und umfassend mit einem Wort zusammengefasst werden: Da-Sein. Dieses Da-Sein hat seine Wurzel in einem Glauben an den einen Gott, der sich in der Geschichte der Berufung des Mose am brennenden Dornbusch als der Gott vorstellt, der „da sein wird“. Das ist sein Name, sein ganzes Wesen. Auf ihn beruft sich Jesus von Nazareth, der da war, gerade für die, für die niemand mehr da war. In seinen Spuren gehend wollen wir nicht mehr und nicht weniger: in Jesu Geist da-sein.

Das mag allzu reduziert klingen, gewinnt aber in der Praxis Bedeutung, wenn man Menschen gegenübersitzt, denen das gesamte Selbst- und Lebenskonzept zusammengebrochen ist, Schuld auf sich geladen haben, schwere Verluste erleiden oder dem Sterben nahe sind, kurzum Menschen, denen jegliche Perspektive auf eine gute Zukunft genommen wurde.

Da-Sein aber auch in einem geschlossenen System, wie es das Gefängnis darstellt. Hier – neben allen Beamt*innen und Fachdiensten sind auch Seelsorger*innen da. Von der evangelischen Kirche beauftragt von außen kommend, sind sie mit den Strukturen und Abläufen im Gefängnis vertraut und wirken bestmöglich zusammen unter Einhaltung der Verschwiegenheit. Diese Gleichzeitigkeit, im aber nicht vom System zu sein, öffnet Verständnis und Vertrauen gleichermaßen, sowohl für Insass*innen als auch für Bedienstete.

Geschichte vom toten Jüngling zu Naïn Gedanken zur Geschichte

Gespräche

Ein Moment Augenhöhe

Pfr. Wolfgang Ernst, JA Linz

Ein Seelsorgegespräch im Gefängnis ist ein Moment Augenhöhe. Es bedeutet für mich als Seelsorger sich einzulassen auf den Menschen, der mir gegenübersitzt -nicht auf den Häftling, nicht auf den Kriminellen, sondern auf den Menschen. Und wie wir Menschen unterschiedlich sind, so sind auch die seelsorglichen Gespräche unterschiedlich –offen für das, was gerade da und wichtig ist. So durfte ich schon über vieles sprechen. Über die neue Frisur, über Fußballergebnisse, über die Kinder daheim, über die Heimat in einem anderen Land, über die Sorgen der Vergangenheit und über Hoffnung für die Zukunft. Dabei bleibt alles zwischen mir und dem Menschen, der mir gegenübersitzt. Denn Vertrauen und Verschwiegenheit ermöglichen erst diese Gespräche im Gefängnisalltag. Eine solche Begegnung ist ein Moment Augenhöhe.

Der Weg zur Quelle

Christl Lieben, JA Stein

Die Menschen, die ich mit meiner ganzen Achtung und Zuneigung begleite, gehen einen schweren Weg, was auch immer ihre Tat war. Sie haben sich selbst eine tiefe Wunde geschlagen, die nicht aufhört zu bluten. Sie sind ausgestoßen und haben ihre Würde sowohl wie ihre Selbstachtung verloren. Dennoch halten sie – meistens – den Kopf oben und ertragen, was sie sich und Anderen angetan haben. Dieser einsame Weg ist ein höchst spiritueller Weg, genährt von einer tief in ihnen verborgenen Quelle.
Mir ist es ein Geschenk, diese Menschen – so gut es geht – zu ihrer Quelle zu begleiten, damit sie ihren Weg anders und neu weiter gehen, und vielleicht der Liebe, von der sie gehalten sind, begegnen können.

Hoffnung

Dietmar Menges, JA Innsbruck

Im Besucherraum für Tischbesuche „empfange“ ich Karem. Karem hatte vor ein paar Monaten seine Arbeit im Bauhof verloren, was er wohl seinem Temperament und seiner unverblümten Direktheit zu verdanken hatte. „Aus heiterem Himmel“, erzählt er mir, ergab sich ein Gespräch mit dem Anstaltsleiter, für den Karem kein Unbekannter ist (schließlich ist er schon zum sechsten Mal hier). Und tatsächlich erhält er vom für Hausarbeiter zuständigen Beamten ein paar Tage später ein OK – er „will es noch einmal mit ihm versuchen.“

Dranbleiben, nach Möglichkeiten Ausschau halten, die Hoffnung nicht verlieren. Hoffnung – auf ein paar Euro zusätzlich, auf Normalität, Ablenkung, sozialen Kontakt.

Hoffnung ist Leben.

Gottesdienste

Willkommene Auszeit vom Gefängnis-Alltag

Pfr. Thomas Moffat, JA Leoben

Es ist Mittwoch, kurz nach 13.00 Uhr, in der Justizanstalt Leoben. Heute sind es wegen der Abstandsregeln nur 20 Insassen, die zum Gottesdienst gekommen sind. Erich F., der römisch-katholische Pastoralassistent, spielt schwungvoll Gitarre. Gemeinsam gestalten wir seit Jahren die Gottesdienste. Das wird auch gern angenommen. Viele der Mitfeiernden sind orthodox, römisch-katholisch oder haben gar keine christliche Sozialisation. Dennoch sind sie da und freuen sich über eine Abwechslung zu den sonstigen Abläufen im Gefängnis. Wieder wird mir klar, dass wir beschenkt werden – von dem dankbaren Lächeln eines Insassen, dem gemeinsamen Gesang und von Gott, der auch heute in unserer Mitte ist.

Sich selbst einmal anders sehen …

Pfr. Arndt Kopp-Gärtner, JA Karlau und JA Jakomini

Am dritten Sonntag im Monat wird der übliche Anstaltsgottesdienst als evangelischer gefeiert. Die Mitfeiernden tauchen in eine „andere Welt“ ein: sie singen gemeinsam; sie sprechen ein Psalmgebet im Wechsel; sie halten ein paar Minuten Gebetsstille …;
Es gibt mehrere Gründe mitzufeiern. Ein Insasse hat es einmal so ausgedrückt: zum Gottesdienst komme er gern, „… denn wissen’s, da fühle ich mich als Mensch“.
Zumindest atmosphärisch scheint da einiges anzukommen: sich einmal nicht als Täter/in angesprochen wissen; spüren, was auch immer Menschen getan haben, Gott gibt keinen Menschen auf.

Gelebte Ökumene

Pfr. Markus Gerhold, JA Garsten

In der JA Garsten gibt es eine bereits sehr lange intensiv gelebte und gepflegte ökumenische Gemeinschaft. Die findet sich natürlich auch in den Gottesdiensten wieder, die grundsätzlich überkonfessionell und zu jeder Gelegenheit auch so richtig ökumenisch gefeiert werden. Highlights sind dabei sicher der schon traditionelle Weihnachtsgottesdienst mit dem röm. kath. Bischof, oder wie zuletzt ein gemeinsamer Gottesdienst zu Allerheiligen, mit einem Predigtgespräch über Luther und die Heiligen. Das wirklich Schöne ist, dass hier konfessionelle Grenzen kaum eine Rolle spielen und dadurch viele Möglichkeiten zur Teilhabe eröffnet werden.

Gruppen

Mehr als nur Kaffee und Karten

Raphael Schmidt, JA Gerasdorf

In der JA Gerasdorf gibt es eine Gruppe, die sich zum Kaffeetrinken und Kartenspielen trifft. Es gibt auch die Möglichkeit Einzelgespräche während der Gemeinschaft zu führen.
Über Anliegen, Fragen und Sorgen wird ebenfalls gesprochen. Alles, was besprochen wird, bleibt selbstverständlich in der Gruppe bzw. im Einzelgespräch.

Schreibwerkstatt

Pfr. Markus Fellinger, JA Stein

Schreiben, das heißt, nach Formulierungen suchen, Gedanken bündeln und formieren, einen roten Faden verfolgen. Was will ich wirklich sagen? Schreiben ist ein kreatives Ringen, das über das Intellektuelle hinaus reicht und Orientierung schafft. Dazu trifft sich eine Gruppe von etwa 10 Insassen monatlich in der JA Stein in einer wertschätzenden Haltung des Einander-Zuhörens. Nicht selten ergeben sich dann Gespräche, die dazu führen, sich selber und andere besser zu verstehen. Und aus den Gesprächen entsteht das Thema für das nächste Treffen. Ein lebendiger Prozess kommt in Gang.